Treffen sich zwei Nachbarn… was sich wie der Anfang eines Witzes anhört, ist im richtigen Leben manchmal gar nicht lustig. Das Nachbarrecht ist reichlich kompliziert, es gibt verschiedene Regeln im BGB (§§ 905 ff) und auch landesrechtliche Nachbargesetze. Der BGH (Urteil vom 11.06.2021 – V ZR 234/19) hat dazu einen wichtigen Alltagsfall geklärt.

Um was ging es?

Auf dem Grundstück des E steht eine Schwarzkiefer direkt an der Grenze zu N. Der Baum ist in den letzten 40 Jahren auf 15 m Höhe gewachsen. Seit mindestens 20 Jahren ragen die Äste auf das Grundstück des N, aber nicht nur das: N klagt darüber, dass der Baum das ganze Jahr über nadelt und eine solche Menge an Nadeln verliert, dass bei ihm an dieser Stelle nichts anderes wächst und der Boden versauert. Außerdem fallen die Nadeln bis auf die Terrasse und den Wintergarten des N und sammeln sich dort an schwer zugänglichen Stellen. Das möchte N nicht mehr und setzt dem E eine Frist: E solle seinen Baum beschneiden, sonst mache er das. E reagiert nicht, N greift selbst zur Säge. E seinerseits hat Angst um seinen Baum und verklagt den N, die Sägeaktion zu unterlassen.

Hier hat E wohl Pech! N darf die Äste abschneiden – auch wenn der Baum des E eingehen sollte! (Ausnahmen kann es aber geben, wenn der Baum unter Naturschutz steht).

Warum ist das so?

Eigentlich steht das genau so im Gesetz, das in diesem Falle sogar ausnahmsweise mal klar verständlich und einfach zu lesen ist. § 910 BGB lautet:

(1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.
2) Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.

Aber so einfach ist das natürlich alles nicht, vor allem wenn die Zweige nicht nur herüberragen, sondern auch Nadeln oder Blätter herunterfallen und eventuell der Baum geschädigt werden kann, wenn der Nachbar die Säge ansetzt. Deshalb waren einige Fragen bisher umstritten, die der BGH jetzt geklärt hat.

Was gilt jetzt?

Für die Frage des Überhangs von Ästen bzw. das Herüberwachsen von Wurzeln auf das Nachbargrundstück gilt nur § 910 BGB.

Schon im Jahr 2019 hatte der BGH (Urteil vom 14.6.2019V ZR 102/18) entschieden, dass § 910 BGB nicht nur die unmittelbare Beeinträchtigung durch das reine Herüberwachsen der Äste regelt, sondern auch alles erfasst, was eine mittelbare Beeinträchtigung von N darstellt: § 910 BGB umfasst auch den „Überfall“ von Laub, Nadeln und Ähnlichem. Die damalige Entscheidung war deshalb wichtig, weil es in § 906 BGB noch eine Norm gibt, die die Einwirkung von sogenannten „unwägbaren Stoffen“ – also z.B. Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen usw. – regelt. Diese Norm ist im Gegensatz zu § 910 BGB sehr kompliziert, der BGH sagt hier erfreulicherweise, dass sie bei den herüberragenden Ästen und dem herabfallenden Laub nicht gilt. Und zwar im Grunde deshalb, weil der Gesetzgeber wollte, dass das Selbsthilferecht einfach und allgemeinverständlich ausgestaltet sein und eine rasche Erledigung von Nachbarstreiten ermöglichen soll. Der BGH möchte, dass das Selbsthilferecht einfach handhabbar und seine Ausübung nicht mit Haftungsrisiken belastet ist.

N darf zur Säge greifen…

Wenn die Voraussetzungen des § 910 Abs 1 S. 2 BGB (herüberwachsende Zweige, fruchtlose Fristsetzung des N an E) vorliegen, darf N sich also auf dem Weg zur Säge machen. Bevor er diese dann aber ansetzt, sollte er vorher geprüft haben, ob die Benutzung seines Grundstückes tatsächlich beeinträchtigt ist.

…wenn die Nutzung seines Grundstücks objektiv beeinträchtigt ist.

Denn Achtung: Das Selbsthilferecht entfällt, wenn der Überhang die Benutzung seines Grundstücks nicht beeinträchtigt. Und das ist objektiv zu beurteilen. Es reicht also nicht, dass sich N durch den Überhang beeinträchtigt fühlt.

Die oben angegebenen Umstände, die der N beklagt sind allerdings schöne Beispiele für objektive Beeinträchtigungen.

Ausnahme:Naturschutzrecht

Etwas anders kann allerdings gelten, wenn der Baum unter Naturschutz steht!

Beweislast liegt bei E!

Kommt es zum Streit, geht es auch darum, wer was beweisen muss. Auch diese sogenannte Beweislast geht hier zugunsten des N aus: E muss diesen Vortrag des N widerlegen. Er muss vor allem darlegen und beweisen, dass die Äste und Zweige die Nutzung des Grundstückes des Nachbars nicht beeinträchtigen.

Keine Abwägung

Der BGH klärt deshalb eine seit längerem umstrittene Frage: Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen vor, besteht das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB. Punkt. Es entfällt nur nach § 910 Abs. 2 BGB, also nur, wenn die Wurzeln oder Zweige die Benutzung seines Grundstücks nicht (objektiv) beeinträchtigen. Es findet hier keine „Abwägung“ im Sinne einer Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung statt.

Und wenn das Risiko besteht, dass der Baum eingeht?

Das muss den N nicht kümmern. Er muss also nicht vorher prüfen, ob das Abschneiden der Wurzeln oder der Zweige die Standfestigkeit des Baumes gefährdet oder aus sonstigen Gründen zum Absterben des Baumes führen kann

Der Grund ist eigentlich einleuchtend: Der Baumeigentümer muss dafür sorgen, dass Baumwurzeln oder Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen. Tut er dies nicht, kann er später nicht unter Hinweis auf die Gefährdung des Baumes vom Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen. Weil er selbst den Anlass gesetzt hat, muss er die Beeinträchtigung des Grundstücks hinnehmen.

Aber Nachbarn müssen doch Rücksicht nehmen?

In diesem Fall nicht.

Zwar gibt es ein sogenanntes nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis aus dem ein gegenseitiges Rücksichtnahmegebot resultiert. Das gilt aber nur in den Fällen, in denen die gesetzlichen Regelungen nicht ausreichen und ein „billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint“ (BGH, Urteil vom 20. September 2019 – V ZR 218/18, BGHZ 223, 155 Rn. 21 mwN).

Mit „billig“ meinen Juristen so etwas wie „fair“. Wenn E aber seinen Baum nicht richtig beschneidet, setze er selbst das Risiko, dass ein Baum eingeht, wenn N sein Recht ausübt. Er ist sozusagen „selber schuld“ und kann sich nicht auf eine solche Billigkeitsregeln berufen.

Aber N kann doch jetzt nicht nach 20 Jahren plötzlich kommen … ???

Doch, kann er.

Denn dieses Selbsthilferecht des N ist – das verstehen jetzt nur Juristen, ist aber so – kein „Anspruch“ und verjährt deshalb nicht. Es ist hier auch wahrscheinlich auch keine „Verwirkung“ eingetreten (das muss das Gericht nochmals prüfen). Allein der lange Zeitablauf reicht nicht. Eine Verwirkung würde nur in Betracht kommen wenn der N zum Beispiel irgendwann mal gesagt hätte, dass ihn das nicht stört und er sein Recht auf Selbsthilfe nicht ausüben würde oder etwas Ähnliches.

P.S.: Der Überfall

Das Gesetz regelt übrigens in § 911 BGB auch tatsächlich den „Überfall“ : Damit ist aber nicht gemeint, dass man straflos Kirschen aus Nachbars Garten klauen darf, sondern lediglich, dass man die Kirschen behalten kann, die vom Nachbarsbaum auf das eigene Grundstück fallen. Und „fallen“ heißt fallen: Schütteln gilt nicht!

 Rechtsanwalt Johannes Hofele  Fachanwalt für Steuerrechtvon Rechtsanwalt Johannes Hofele,
Fachanwalt für Steuerrecht
Breiholdt Rechtsanwälte